Wenn Unternehmen sich neu im Markt positionieren und ihre Organisation neu strukturieren, müssen ihre Mitarbeiter teils auch neue Denk- und Verhaltensroutinen entwickeln. Sonst zeigen sie im Betriebsalltag nicht nachhaltig das zum Erreichen der Ziele erforderliche Verhalten.
Unternehmen benötigen viele Kompetenzen, um auf Dauer erfolgreich zu sein. Mit ihrem Auf- und Ausbau sind zahlreiche Lernprozesse verbunden – auf der individuellen und organisationalen Ebene. Und damit einher gehen stets auch Prozesse des individuellen und organisationalen Verlernens – sei es, weil gewisse Aufgaben nicht mehr, seltener oder anders als bisher erledigt werden. Zum Beispiel, weil
- das Unternehmen sich neu im Markt positionierte und deshalb auch neu strukturierte oder
- neue technische Verfahren einführte oder
- sich die Kundenerwartungen geändert haben.
Kompetenzen entstehen … und verschwinden
Beim Verlernen gilt es zwischen erwünschten und unerwünschten Verlern-Prozessen zu unterscheiden. Wie rasch ein Verlernen erfolgt, weiß jeder, der schon mal eine IT-Schulung besuchte. Versucht man dann wenige Tage später nochmals dieselben Aufgaben zu lösen, die man gegen Ende der Schulung scheinbar im Schlaf beherrschte, stellt man oft mit Schrecken fest: „Ups, ich weiß ja gar nicht mehr, wie das geht.“
Ähnlich verhält es sich bei Aufgaben, die man tatsächlich beherrschte, für eine lange Zeit aber nicht mehr ausübte. Möchte oder muss man sie dann mal wieder erledigen, registriert man ebenfalls oft: „Ich kann das nicht mehr.“ Oder zumindest: „Ich benötige hierfür mehr Zeit als früher.“
Ähnliche Prozesse finden auf der organisationalen Ebene von Unternehmen statt. Auch in ihnen verschwinden ungewollt immer wieder Kompetenzen, in denen sie ehemals „exzellent“ waren und weshalb sie zum Beispiel für Kunden attraktive Partner waren. Eine zentrale Ursache hierfür ist: Viele Unternehmensführer betrachten die Ausgaben in den Bereichen Aus- und Weiterbildung sowie Personal- und Kompetenzentwicklung als Investitionen. Das sind sie betriebswirtschaftlich gesehen auch. Sie haben jedoch einen anderen Charakter als Sachinvestitionen.
Kompetenz ist kein Haben-Posten in der Bilanz
Kauft ein Unternehmen zum Beispiel benötigte Maschinen oder Gebäude, dann kann es diese auf der Haben-Seite verbuchen. Zudem kann es in der To-do-Liste sozusagen einen Haken hinter dem Job „Maschinen anschaffen“ oder „Bürogebäude kaufen“ machen, weil der Bedarf zumindest vorläufig gedeckt ist.
Anders ist es, wenn ein Unternehmen Mitarbeiter zum Beispiel im Bereich IT-Nutzung, Führung, Projektmanagement oder Marktbearbeitung schult. Dann ist die Sache hiermit nicht erledigt. Das Unternehmen hat vielmehr sozusagen nur ein Feuer entfacht. Damit dieses langfristig lodert, müssen bildhaft gesprochen jedoch regelmäßig Holzscheide nachgelegt werden. Sonst ist das Feuer nur ein Strohfeuer, da die Mitarbeiter im Betriebsalltag noch nicht dauerhaft und regelmäßig das gewünschte Verhalten zeigen, weil sie
- dieses noch nicht verinnerlicht haben und
- noch keine Routine in seiner Anwendung haben.
Das heißt, die bisherigen Investitionen in ihre Aus- und Weiterbildung waren aus Unternehmenssicht weitgehend vergebens.
Ein regelmäßiges Nachlegen im Bereich Kompetenzentwicklung ist auch nötig, weil in jedem Unternehmen ein gewisser Personalwechsel erfolgt: Mitarbeiter kommen und gehen. Deshalb ist es, selbst wenn ein Unternehmen seine Mitarbeiter intensiv zum Beispiel im Bereich Führung und Projektmanagement schulte, nicht garantiert, dass zwei, drei Jahre später noch alle Mitarbeiter dasselbe Führungs- und Projektmanagement-Verständnis (und -Know-how) haben. Ein solches Alignment, also allgemeines Commitment, bleibt nur bestehen, wenn das Unternehmen konsequent alle Mitarbeiter, die in der Organisation neu eine entsprechende Position oder Funktion übernehmen, schult.
Nicht das Wissen, das Können und Tun entscheidet
Weit entscheidender dafür, dass die gewünschte Veränderung nachhaltig ist, ist jedoch, dass bei den Verantwortlichen für die Personalentwicklung das Bewusstsein besteht, dass Wissen noch lange nicht Können und Können noch lange nicht Tun bedeutet. Damit das Wissen in Können und dieses wiederum in ein Tun umschlägt, sind ein regelmäßiges Erinnern und systematisches Einüben im Betriebs- und Arbeitsalltag nötig.
Deshalb spielt zum Beispiel in der Personalentwicklung des Unternehmens Toyota das sogenannte Kata Coaching eine wichtige Rolle. Dieses zielt darauf ab, vorhandene Denk- und Verhaltensroutinen zu verlernen und neue zu erlernen – und zwar orientiert an den Entwicklungszielen des Unternehmens. Dahinter steckt die Erkenntnis: Viele Abläufe und Prozesse in den Unternehmen sind eine Konsequenz der Gewohnheiten, die sich deren Mitarbeiter im Verlauf vieler Jahre, teils sogar Jahrzehnte angeeignet haben. Sie wurden so oft wiederholt, dass sie sozusagen in der DNA der Mitarbeiter verankert sind. Entsprechend selbstverständlich werden sie ausgeführt, wenn Mitarbeiter oder Teile der Organisation vor bestimmten Aufgaben stehen.
Routinen sorgen für die gewünschte Nachhaltigkeit
Solche Routinen genannten Denk- und Verhaltensgewohnheiten sind nichts Schlechtes. Im Gegenteil! Personen und Organisationen benötigen sie, um ihren Alltag zu meistern. Denn sonst würden sie endlos viel Zeit und Energie auf solche Alltagstätigkeiten wie das Zähneputzen verwenden. Oder im betrieblichen Kontext auf solche Alltagsaufgaben wie die Arbeitsplanung und Materialbeschaffung. Zudem sind sie im Betriebsalltag der Garant dafür, dass gewisse Leistungen zuverlässig so erbracht werden, dass sie den definierten Qualitätsstandards entsprechen.
Zum Problem werden Routinen erst, wenn die damit verbundene Art, Aufgaben anzugehen und zu lösen, auch beibehalten wird, wenn aufgrund veränderter Rahmenbedingungen oder einer neuen strategischen Ausrichtung ein anderes Vorgehen nötig oder zielführender wäre. Dann werden die Routinen zu einem Hemmschuh für die Entwicklung. Das heißt, die alten Routinen müssen verlernt und durch neue ersetzt werden.
Ziel: Routinen auch im Lösen von „Problemen“ entwickeln
Routinen sind das Ergebnis eines längeren Prozesses des fortlaufenden Wiederholens und (Ein-)Übens. In der musikalischen Erziehung, also beispielsweise beim Erlernen des Klavier-Spielens, ist dieses permanente Üben gang und gäbe. Ebenso im Sport. Turner trainieren gewisse Bewegungsabläufe so lange, bis sie diese verinnerlicht haben. Und danach wenden sie sich schwierigeren Übungen zu, sodass ihr Können sukzessiv steigt. Doch nicht nur dieses! Durch das regelmäßige Üben und Reflektieren, was wie noch besser gemacht werden kann, erwerben (angehende) Profisportler und Berufsmusiker zunehmend die Kompetenz, eigenständig ihre Leistung zu steigern. Sie werden sozusagen zum Coach ihrer eigenen Person.
Dies ist auch ein übergeordnetes Ziel beim Kata Coaching. Deshalb geben bei ihm die Führungskräfte, die als Kata Coaches agieren, ihren Mitarbeitern, wenn diese vor neuen Aufgaben oder Herausforderungen stehen, die Lösung nicht vor. Sie leiten ihre Mitarbeiter vielmehr bei deren Suche und Entwicklung an, mit dem übergeordneten Ziel, dass ihre Mitarbeiter selbst die hierfür erforderliche Kompetenz erwerben. Durch diesen sukzessiven Ausbau ihrer (Problemlöse-)Kompetenz sollen die Mitarbeiter mit der Zeit auch das nötige Selbstvertrauen erwerben, um stets größere oder komplexere Herausforderungen eigeninitiativ anzugehen.
Das beschriebene Verfahren zur Kompetenzentwicklung praktiziert Toyota seit Jahrzehnten – unter anderem mit dem Ziel, die bereits vorhandene Kultur der kontinuierlichen Verbesserung noch stärker in der DNA der Mitarbeiter und der Organisation zu verankern. Dahinter steckt die Erkenntnis: Der Change- und Lernbedarf in den Unternehmen ist heute oft so groß und vielschichtig, dass er immer schwieriger top-down erfasst und gemanagt werden kann. Also müssen sich die Mitarbeiter in Richtung Selbstentwickler entwickeln, die selbst erkennen,
- was es aufgrund der angestrebten Ziele zu tun gilt,
- wo bei ihnen noch ein Entwicklungsbedarf besteht und wie sie diesen befriedigen können.
Führungskräfte sind Vorbilder auch beim (Ver-)Lernen
Der Aufbau einer solchen Kultur eines gezielten individuellen und kollektiven Lernens und Verlernens erfordert Zeit, Geduld und Liebe zum Detail; außerdem Führungskräfte, die
- sich auch als Lernbegleiter ihrer Mitarbeiter verstehen und
- sich intensiv mit den (Lern- und Entwicklungs-)Prozessen in ihrer Organisation befassen.
Die Führungskräfte müssen zudem regelmäßig ihr eigenes Handeln reflektieren. Sonst besteht die Gefahr, dass sie zwar von ihren Mitarbeitern eine hohe Lern- und Veränderungsbereitschaft fordern, in ihrem eigenen Verhalten dieser Anspruch aber nicht erfahrbar ist. Dann trägt ihr Mitarbeiter-Coaching keine Früchte, denn nach wie vor gilt: Führungskräfte haben eine Vorbildfunktion für ihre Mitarbeiter – auch bezüglich der Bereitschaft, bei Bedarf die eigenen Einstellungen und das eigene Verhalten zu verändern.
Dr. Georg Kraus
Zum Autor: Dr. Georg Kraus ist Inhaber der Unternehmensberatung Kraus & Partner, Bruchsal (www.kraus-und-partner.de). Er ist Autor mehrerer Change und Projektmanagement-Bücher. Er hat eine Professur an der Technischen Universität Clausthal und ist Lehrbeauftragter an der Universität Karlsruhe und der IAE in Aix-en-provence.